< vorherige Seite          Gradiva : Wilhelm Jensen (1903)        Seite 3 / 14          Nächste Seite >

Ein Nachdenken darüber konnte drum auch nichts nützen; die unbestimmte Gefühlserregung kam aus der linden Frühlingsluft, den Sonnenstrahlen, der Weite mit ihrem Duftanhauch und gestaltete ihm einen Vergleich herauf, er sitze hier eigentlich ebenfalls in einem Käfig hinter Gitterstäben. Doch gesellte sich dem sofort beschwichtigend hinzu, seine Lage sei ungleich vortheilhafter als die des Canarienvogels, denn er habe Flügel im Besitz, die durch nichts am beliebigen Ausfliegen ins Freie behindert wurden.

Das aber war jetzt ein Vorstellungsergebnis, von dem sich durch Nachdenken weiter fortschreiten liess. Norbert gab sich dieser Beschäftigung ein Weilchen hin, doch dauerte es nicht lange, bis der Vorsatz einer Frühlingsreise in ihm feststand. Den führte er am selben Tage noch aus, packte seinen leichten Handkoffer, warf beim Abendanbruch noch einen bedauerlichen Verabschiedungsblick auf die Gradiva, die, von den letzten Sonnenstrahlen überflossen, behender denn je über die unsichtbaren Trittsteine unter ihren Füssen auszuschreiten schien, und fuhr mit dem Nachtschnellzug in südlicher Richtung davon. Wenn auch der Antrieb zu einer Reise ihm aus einer unbenennbaren Empfindung entsprungen war, hatte die weitere Überlegung doch als selbstverständlich ergeben, dass sie einem wissenschaftlichen Zweck dienen müsse. Ihm war aufgegangen, dass er vernachlässigt habe, sich in Rom bei mehreren Statuen über einige wichtige archäologische Fragen zu vergewissern, und er begab sich, ohne unterwegs anzuhalten, in anderthalbtägiger Fahrt dorthin.

Nicht allzuviele machen an sich selbst die Erfahrung, dass es sehr schön ist, jung, vermöglich und unabhängig im Frühling aus deutschen Landen nach Italien zu ziehen, denn selbst die mit jenen drei Eigenschaften Ausgerüsteten sind solcher Schönheitsempfindung nicht allmal zugänglich. Besonders wenn sie, und leider die Mehrzahl ausmachend, sich in den einer Hochzeit nachfolgenden Tagen und Wochen zu zweien befinden, nichts ohne ein ausserordentliches, sich durch zahlreiche Superlative kundgebendes Entzücken an ihren Augen vorübergleiten lassen und schliesslich nur das nämliche als Ausbeute mit nach Hause zurückbringen, was sie beim Dortverbleiben ganz ebenso entdeckt, empfunden und genossen hätten. In umgekehrter Richtung wie die Zugvögel pflegen solche Dualisten im Frühling die Alpenpässe zu überschwärmen. Norbert Hanold ward während der ganzen Fahrt von ihnen wie in einem rollenden Taubenschlag umflügelt und umflötet und eigentlich zum erstenmal im Leben in die Zwangslage versetzt, seine ihn umgebenden Mitmenschen mit Auge und Ohr genauer in sich aufzunehmen. Obwohl sie nach ihrer Sprache sämtlich deutsche Landsleute waren, rief seine Stammeszugehörigkeit zu ihnen durchaus kein Stolzgefühl in ihm wach, vielmehr nur das ziemlich entgegengesetzte, er habe vernunftgemäss wohl daran gethan, sich bisher mit dem lebendigen ›Homo sapiens‹ der Linnéschen Classifizierung möglichst wenig zu befassen. Hauptsächlich in bezug auf die weibliche Hälfte dieser Gattung; zum erstenmal auch sah er derartig vom Paarungstrieb Zusammengesellte in seiner nächsten Nähe, ausserstande zu begreifen, was sie gegenseitig dazu veranlasst haben könne. Ihm blieb unverständlich, warum die Frauen sich diese Männer ausgewählt hätten, noch räthselhafter aber, weshalb die Wahl der Männer auf diese Frauen gefallen sei. Bei jeder Kopfaufhebung musste sein Blick auf das Gesicht einer von ihnen gerathen und traf auf keines, das die Augen durch eine äussere Wohlbildung einnahm oder innerlich auf einen geistigen und gemüthlichen Inhalt hinwies. Allerdings fehlte ihm ein Massstab, um sie daran zu bemessen, denn mit der erhabenen Schönheit der alten Kunstwerke durfte man das heutige weibliche Geschlecht natürlich nicht in Vergleich bringen, doch trug er eine dunkle Empfindung in sich, dass er sich dieses ungerechten Verfahrens nicht schuldig mache, sondern in allen Zügen etwas vermisse, zu dessen Darbietung auch das gewöhnliche Leben verpflichtet sei. So dachte er manche Stunden hindurch über das sonderbare Treiben der Menschen nach und kam zu dem Ergebnis, unter allen ihren Thorheiten nehme jedenfalls das Heirathen, als die grösste und unbegreiflichste, den obersten Rang ein, und ihre sinnlosen Hochzeitsreisen nach Italien setzten gewissermassen dieser Narrethei die Krone auf.

Wiederum aber ward er an den von ihm in der Gefangenschaft zurückgelassenen Canarienvogel erinnert, denn er sass auch hier in einem Käfig, rundum von den ebenso verzückten als nichtig-leeren jungen Ehepaargesichtern eingepfercht, an denen vorbei sein Blick nur dann und wann einmal durch die Fenster hinausschweifen konnte. Daraus mochte sich wohl erklären, dass die draussen seinen Augen vorüberziehenden Dinge ihm andere Eindrücke als damals erregten, wie er sie vor einigen Jahren gesehen hatte. Das Olivenlaub flimmerte in einem stärkeren Silberglanz, die da und dort einsam gegen den Himmel ragenden Cypressen und Pinien zeichneten sich mit schöneren und eigenartigeren Umrissen ab, reizvoller bedankten ihn die auf den Berghöhen hingelagerten Ortschaften, wie wenn jede gleichsam ein Individuum mit verschiedengeartetem Gesichtsausdruck sei, und der Trasimenische See erschien ihm von einer weichen Bläue, wie er sie noch nie an einer Wasserfläche wahrgenommen. Ihn rührte ein Gefühl an, den Schienenstrang umgebe rechts und links eine ihm fremde Natur, als ob er diese vormals in beständigem Dämmerlicht oder bei grauem Regenfall durchfahren haben müsse und jetzt zum erstenmal in ihrer von der Sonne vergoldeten Farbenfülle sehe. Ein paarmal ertappte er sich auf einem ihm bisher unbekannt gewesenen Wunsch, aussteigen und zu Fuss sich einen Weg nach dieser und jener Stelle suchen zu können, weil sie ihn ansah, wie wenn sie irgendetwas Eigenthümliches, wie Geheimnisvolles verborgen halte. Doch liess er sich von solchen vernunftwidrigen Anwandlungen nicht verleiten, sondern der ›direttissimo‹ brachte ihn gradewegs nach Rom, wo ihn bereits vor der Einfahrt in den Bahnhof die alte Welt mit den Trümmerresten des Tempels der Minerva Medica in Empfang nahm. Aus seinem mit den Inseparables angefüllten Käfig in Freiheit gelangt, nahm er vorderhand in einem ihm bekannten Gasthof Unterkunft, um sich von dort aus ohne Übereilung nach einer seinem Wunsch entsprechenden Privatwohnung umzusehen.

»Meine süsse Grete –«

Damit schloss vorderhand die Unterhaltung. Norbert hörte noch ein unbestimmtes Rascheln und Rücken von Stühlen, dann ward's still, und er verfiel in den Halbschlaf zurück. Der versetzte ihn nach Pompeji, wie eben der Vesuv wieder ausbrach; ein buntes Gewimmel von flüchtenden Menschen knäuelte sich um ihn herum, und darunter sah er auf einmal den Apoll von Belvedere, der die capitolinische Venus aufhob, forttrug und in einen dunklen Schatten gesichert auf einen Gegenstand hinlegte; ein Wagen oder Karren, mit dem sie fortgebracht werden sollte, schien's zu sein, denn ein knarrender Ton scholl davon her. Dieser mythologische Vorgang verwunderte den jungen Archäologen nicht weiter, nur fiel ihm als merkwürdig auf, dass die beiden nicht Griechisch, sondern Deutsch miteinander redeten, denn er hörte sie, dadurch zu halber Besinnung gelangend, nach einem Weilchen sagen:

»Meine süsse Grete –«

»Mein einziger August –«

Aber danach verwandelte sich das Traumbild um ihn herum vollständig. Lautlose Stille trat an die Stelle der verworrenen Töne, und statt des Rauches und Flammenscheines lag helles, heisses Sonnenlicht über den Trümmerresten der verschütteten Stadt. Die änderte sich ebenfalls allmählich um, ward zu einem Bett, auf dessen weissen Linnen Goldstrahlen sich bis an seine Augen heranringelten, und Norbert Hanold wachte, vom römischen Frühmorgen umfunkelt, auf.

Auch in ihm selbst war indess etwas anders geworden, wodurch, wusste er sich nicht anzugeben, doch hatte sich seiner abermals ein sonderbar beklemmendes Gefühl bemächtigt, dass er in einem Käfig eingesperrt sei, der diesmal Rom heisse. Wie er das Fenster öffnete, kreischten ihm von der Strasse her die dutzendfachen Ausrufe der Verkäufer noch weit schrilltöniger im Ohr als in seiner deutschen Heimat; er war nur aus einer lärmvollen Steingrube in die andre gerathen, und ihn schreckte ein wunderlich unheimliches Grauen vor den Alterthumssammlungen, einer dortigen Begegnung mit dem Apoll von Belvedere und der capitolinischen Venus zurück. So stand er nach kurzem Besinnen von seinem Vorhaben, sich eine Wohnung zu suchen, ab, packte eilfertig seinen Koffer wieder und fuhr auf der Eisenbahn weiter nach Süden. Dies that er, um den Inseparables zu entgehen, in einem Wagen dritter Classe, zugleich in diesem eine interessante und ihm wissenschaftlich förderliche Umgebung von italienischen Volkstypen, den ehemaligen Modellen der antiken Kunstwerke, erwartend. Doch er fand nichts als landesüblichen Schmutz, entsetzlich riechende Monopol-Cigarren, kleine, windschiefe, mit Armen und Beinen fuchtelnde Kerle und Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes, gegen die ihm seine zwiegepaarten Landsmänninnen in der Erinnerung fast noch als olympische Göttinnen erschienen.

Zwei Tage später bewohnte Norbert Hanold einen ziemlich fragwürdigen, camera benannten Raum im ›Hotel Diomède‹ neben dem von Eucalyptusbäumen bewachten ›ingresso‹ zu den Ausgrabungen von Pompeji. Er hatte beabsichtigt, dauernd in Neapel zu bleiben, um die Sculpturen und Wandgemälde im Museo Nazionale eingehend wieder zu studiren, doch es war ihm dort ähnlich ergangen wie in Rom.



< vorherige Seite          Gradiva : Wilhelm Jensen (1903)        Seite 3 / 14          ^Seitenbeginn^          Nächste Seite >